Lesen mit Verstand

Texte lesen ist nicht gleich Texte verstehen
Von Bernhard von Clairvaux stammt der Spruch: Lesen ohne Nachdenken macht stumpf; Nachdenken ohne Lesen geht irre. Besser könnte man Textarbeit im Fremdsprachenunterricht nicht charakterisieren, denn das Lesen von Texten im Deutschunterricht mit Erwachsenen geschieht immer auf verschiedenen Ebenen.
Um einen Text zu verstehen, reicht es nicht aus, die explizit benannten Informationen zu finden. Einen Text verstehen, ist eine aktive Konstruktionsleistung. Die inhaltlichen Aussagen werden dabei nicht nur vorgelesen oder erkannt, sondern mit dem Vor-, Welt- und Sprachwissen der Lerner*innen zu neuen Ergebnissen verknüpft. Der Text wird praktisch re-konstruiert, wobei die Bedeutung für die Lerner*innen bei Auseinandersetzung mit den Inhalten des Textes entsteht.
Um dahin zu kommen benötigen die Lerner*innen Strategien und Fertigkeiten. Ganz vorneweg geht es dabei um die schriftsprachlichen Fertigkeiten im Bereich der Worterkennung. Vor dem Verstehen eines Lesetextes ist eine ausgeprägte Lesefertigkeit nötig. Insbesondere bei Lerner*innen, die sich noch im Prozess des Lesenlernens befinden, ist der Hauptgrund für ein beeinträchtigtes Leseverstehen in Schwierigkeiten mit der Worterkennung zu finden. Daher nimmt z. B. am Beginn des Schriftspracherwerbs in den Alphabetisierungskursen die Worterkennung eine zentrale Lerngröße ein. Ziel ist hier der sukzessive Aufbau eines Sichtwortschatzes im Deutschen, also einer automatisierten Worterkennung.
Außerdem geht es für die Lerner*innen um sprachliche Kompetenzen auf lexikalischer und syntaktisch-morphologischer Ebene sowie um die Fähigkeit, sich mit den Inhalten an sich auseinandersetzen zu können. Nehmen wir mal an, die Lerner*innen sollen im Deutschunterricht mit einem Text über Aufbau, Funktionsweise und Bedeutung moderner Windmühlen arbeiten. Höchstwahrscheinlich ist dieses Thema für eine Vielzahl der Lerner*innen neu. Sie brauchen also Strategien. Eine der Texterschließungsstrategien ist das Aktivieren von Vorwissen.
Die Lerner*innen sollen sich dabei Hintergrundwissen zum Thema bewusst machen, aber auch Erwartungen an die Inhalte formulieren. Dabei wird bereits vorhandenes Wissen im Langzeitgedächtnis mit wesentlichen Hintergrundinformationen zur Thematik verknüpft. Im Fremdsprachenunterricht ist diese Phase eng an die Wortschatzaktivierung und -vermittlung gebunden.
Für den Windmühlentext heißt das, dass die Lerner*innen im Unterricht erst einmal alles sammeln, was sie über Windmühlen wissen. Dabei wird auch der textrelevante Wortschatz aufgeschrieben und geklärt.
Auch das Äußern von Vermutungen oder Vorhersagen zum Text ist an dieser Stelle genauso wirkungsvoll und bietet im Unterrichtsverlauf auch mal eine andere Herangehensweise. Die Lerner*innen können Vermutungen zum Text bereits nach dem Lesen der Überschrift äußern. Es kann gefragt werden, was erwartet wird oder auch, welche Fragen der Text beantworten könnte. Das kann übrigens auch absatzweise geschehen, was eine schöne Möglichkeit ist, Lesen und Nachdenken schrittweise zu verbinden.
Unsere Blogautorin: Anke Kuhnecke