Fachsprache vs. Patientensprache
„Fachchinesisch“ – ein Erfahrungsbericht
„Nachts musste ich dreimal kotzen“, jammert der sichtlich angeschlagene Patient, Herr Müller, auf Zimmer 8. Doch der junge Assistenzarzt Dr. Zhang, der vor zwei Jahren aus der südchinesischen Provinz Yunnan nach Deutschland kam, ist sich nicht sicher, ob er richtig verstanden hat und bittet die gerade anwesende Frau des Patienten um Erklärung. „Mein Mann musste sich vergangene Nacht dreimal übergeben“, bestätigt diese. Pfleger Erwin bekräftigt, „Ja, Herr Müller hat letzte Nacht mehrfach erbrochen, wir sollten der Oberärztin bei der Visite Bescheid geben.“ „Ja, und mir ist immer noch schlecht“, klagt Herr Müller. Dr. Zhang erwidert, er könne sehen, dass es ihm schlecht gehe. „Nein, mein Mann meint, ihm sei flau im Magen“, erklärt Frau Müller und Pfleger Erwin fügt hinzu, dass Herrn Müller immer noch übel sei. „Erbrechen und Übelkeit“, notiert Dr. Zhang und versucht sich gleichzeitig daran zu erinnern, wie die Fachtermini dieser Symptome heißen. Bei der Visite berichtet er seiner Vorgesetzten, der Patient Herr Müller leide unter Nausea und Emesis.
Hätte er diese Ausdrücke Herrn Müller gegenüber verwendet, hätte dieser sich, zu Recht, über das dauernde „Fachchinesisch“ der Ärzte beschwert (und damit sicher für kurzzeitige Verwirrung beim Arzt aus Yunnan gesorgt). Vier oder fünf Wörter für das gleiche Symptom, die gleiche Krankheit? Keine Seltenheit in deutschen Krankenzimmern und eine große Herausforderung für ausländische Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte, die sich in ihrem Arbeitsalltag im Krankenhaus Interaktionen mit unterschiedlichen Kommunikationspartnern stellen müssen: Patienten unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Dialekten und Herkunftsorten, Kollegen, die eigene effiziente Sprachcodes zum schnellen Austausch nutzen, Angehörige, die emotional reagieren und Vorgesetzte, die fachsprachliche Kenntnisse bei ihren Mitarbeitern voraussetzen.
Für Dr. Zhang war das Erlernen der medizinischen Fachsprache eine komplexe Aufgabe, da seine Ausbildung in China keine Fachtermini in lateinischer oder griechischer Sprache beinhaltete. So ergeht es auch vielen angehenden deutschen Ärzten. Sie müssen im Studium medizinische Terminologie pauken – und das nicht zu knapp. Nach Schätzungen umfasst der medizinische Sprachschatz etwa 170 000 Bezeichnungen, davon 10 000 Namen von Organ- und Körperteilen sowie etwa 60 000 Krankheiten. Ein Medizinstudent beherrscht im Schnitt immerhin etwa 6000 bis 8000 Fachwörter.
Dr. Zhang musste alle Fachbegriffe doppelt oder dreifach lernen, bei der Visite hat er gehört, dass Patientin A. ein „Carzinoma cervicis uteri“ habe, was sein Kollege als „Zervixkarzinom“ bezeichnete und der Patientin gegenüber als „Gebärmutterhalskrebs“ diagnostiziert wurde. Viele umgangssprachliche Ausdrücke lernt er nebenbei in der Praxis. So weiß er seit kurzem, dass „ich hab Rücken“, soviel heißt wie „mein Rücken tut weh“ und „pinkeln“ ein Synonym für „urinieren“ ist. Wann welche Sprache zum Einsatz kommt, hängt von verschieden Faktoren ab: Das Verhältnis der Sprecher zueinander (z.B. Arzt-Patient, Arzt-Arzt, Arzt-Pflegekraft), die Kommunikationsform (mündlich, schriftlich, fernmündlich) und die Situation (z. B. bei der Aufnahme, bei der Visite, im OP oder bei der Übergabe). Und wie in jeder Firma, so herrscht auch im Krankenhaus, auf einer Station, in einer Arztpraxis ein individueller Umgangston, den man nur durch die Erfahrung im Arbeitsalltag verstehen und trainieren kann.
Und, wie geht’s jetzt eigentlich Herrn Müller? Den Vorschlag von Pfleger Erwin „...den hängen wir jetzt erst mal an den Tropf!“ stellt Dr. Zhang vorerst zurück und weist diesen an, einen frischen Ingwertee aufzusetzen. Und Herr Müller ist nach anfänglicher Skepsis überrascht über die wohltuende Wirkung des leicht scharfen Heilgetränks.
Unser Blogautor: Markus Ammon